Anläßlich der Mitgliederversammlung des Verbandes der Ponyzüchter Hessen hielt Herr Prof. Dr. Anton Grauvogl aus Forstinning ein Fachvortrag zum Thema:
Pferde besser verstehen. Der Inhalt dieses wissenschaftlichen Vortrags über die Psyche der Pferde erwies sich als derart interessant, dass die 12 Thesen von Prof. Grauvogl allen Mitgliedern im folgenden Punktekatalog zum nachlesen veröffentlicht werden:
1. Fasst man seine körperlichen Besonderheiten zusammen, so kommt man zu dem Schluß, dass das Pferd das körperlich größte Tier ist ,das sich auf der ganzen Erdkugel halten kann, weil es einfaches Futter frisst, Hitze und Kälte verträgt und bei unpassender Umgebung zu größeren Ortsbewegungen fähig ist; die Summe dieser Eigenschaften trifft nämlich für den Elefanten, das Nilpferd oder den Wal nicht zu.
2. Rechnet man dem hinzu, dass Pferde Herdentiere sind, die also an sozialen Attraktionen sehr interessiert sind, so ist verständlich, dass dieses Tier seit Tausenden von Jahren vielen Menschen liebster Freund ist; sie dürfen auch sagen: manchen Teenies „liebster Schatz“.
3. Von jeher kümmert sich der Mensch sehr intensiv darum, dass sein Pferd etwas lernt und eine gute Ausbildung hat. Lernen können Mensch und Tier auf fünf Arten und Weisen:
a. Lernen am Erfolg (Zufallserfolge)
b. Lernen durch Nachahmung (z.B. Lerntanten auf der Fohlenweide)
c. Kinästhetisches Lernen (Dahinschieben, wo das Tier hin soll)
d. Lernen durch Einsicht (der Affe sitzt im Käfigeck und grübelt).
4. Um sich ein Gedächtnis für wichtige Umweltfaktoren und Bezugsgenossen anzulegen, bedient sich die animalische und auch menschliche Natur eines Photoapparates im Hirn. Die entsprechenden Aufnahmen sind gespeichert, auf Lebenszeit.
Merke: Prägungen beherrschen die Neigungen auch Ihres Pferdes hinsichtlich Stallung, Fütterung, Sozialbeziehungen und vieles mehr. Gottlob hat die Natur vorsichtshalber dafür gesorgt, daß nicht nur eine Aufnahme gemacht wird. Durch sog. Mehrfach-prägungen und Umprägungen kann eine Perversion abgemildert werden.
5. Da das Pferd keine Sprache wie der Mensch besitzt, muß der Mensch einiges über die nonverbale Kommunikation wissen. Eine gute Unterhaltung ohne Worte entwickelt z.B. der Pferdefreund beim Putzen seines Pferdes. Beachte als Tierarzt. Wenn eine junge Dame mit ihrem Pferd zur Behandlung kommt, so behandle zuerst die Dame mit einem herzlichen Kompliment, dann ist auch ihr Pferd positiv gestimmt. Oder folgendes: Elf Pferde kommen zum ersten Mal auf die Weide. Ein Zwölftes war schon voriges Jahr dort. Die Ausbruchsgefahr bei plötzlichem Erschrecken, z.B. durch Lkw-Verkehr, ist sehr gering, weil die elf Pferde in Bruchteilen von Sekunden die Reaktion des zwölften Tieres beobachten und die Situation als ungefährlich beurteilen.
6. Die Einzäunung für eine Pferdeweide darf der Betriebsleiter nicht ohne Studium entsprechender Fachliteratur bzw. Bauanleitung anfertigen. Auf allen Weiden ist ein Sonnenschutz notwendig; entweder durch entsprechende Bäume (Nageschutz anbringen) oder durch Unterstände. Türen und Fenster sind dabei alberner und nicht selten gesundheitsschädlicher Schnickschnack. Prof. Grauvogel konstruierte einen Weideunterstand mit nur zwei Wänden nach Süden und nach Westen sowie einen durchgehenden Schlitz unter dem Dach, um den Insekten das Leben zu vermiesen. Der Boden der „Pferdelaube“ besteht aus einer auswechselbaren Sandschicht. Die Laube ist auch für eine Bodenvorlage von Heu geeignet.
7. Der Unterstand muß so im Eck stehen, daß die Pferde die gesamte Weidefläche „unter Kontrolle“ haben, aber bei Verfolgung doch noch hinten herumlaufen können. Um die Grasnarbe einer Koppel zu schonen, kann man einen Sand-versehenen Rundlauf anfertigen, der gerne angenommen wird. In der Mitte ist eine glatte Betonsäule zur Körperpflege eine gute Sache. Auf einer Weide sollen Strukturen angebracht werden; notfalls genügt hierfür ein Haufen alter Gummireifen, am besten eignen sich Äste, weil diese gleichzeitig eine Zähäsung darstellen.
8. Pferde haben die Eigenart, extrem lang und extrem langsam zu fressen (16 Stunden auf der Weide). Die Gruppenhaltung bedingt spezielle Einrichtungen zur Fütterung: Pferde können allein von Heu fett werden.
9. Das Pferd besitzt keine „Untugenden“, sondern allenfalls „Unarten“. Richtiger bezeichnet man das, was man beim Menschen Verhaltensauffälligkeiten nennt, bei ihm als Verhaltensstörungen. Verhaltensstörungen haben ihre Ursache meistens in Fehler der Haltung oder Fütterung. Erbliche Veranlagungen haben einen geringen Einfluß. Eine der hartnäckigsten Störungen ist beim Pferd das Weben, welches man bei vielen Säugern (besonders evident beim Elefanten) beobachten kann. Das menschliche Tanzen oder das Wiegen eines Säuglings ist eine Vorstufe. Da das Weben der Ausschüttung von körpereigenen Morphinen dient, beherbergt es ein erhebliches Suchtpotential; das gleiche gilt für das Koppen und andere Unarten. Mehr oder weniger alle Lebensvorgänge werden von Endorphinen gesteuert.
10. Pferdekrankheiten sind heutzutage Krankheiten, die hauptsächlich durch Umweltgestaltung verursacht sind. Ein Drittel aller Krankheiten betreffen Beine, je ein Viertel Atmung und Haut und das Verhalten betreffend. Ein Zwanzigstel aller Pferde werden beispielsweise wegen Koppen angesagt. Erbliche Veranlagung, Umwelt und Krankheitskeime bilden zusammen einen Regelkreis und es ist ein sehr komplexes Geschehen, bis „zufällig“ eine Lungenentzündung ausbricht.
11. Stress macht den Pferden mehr zu schaffen als den anderen Nutztieren: Fehler in der Aufstallung, Fütterungsmängel, Reizverarmung sowie unsachgemäßes Reiten und Fahren erzeugen Stresszustände, welche die Gesundheit des Pferdes ruinieren.
12. Pferde sind wie zweijährige Kinder. Sie wollen gestreichelt werden und brauchen doch eine feste Hand. Sie können schlecht denken und haben deshalb soviel Angst. Diese muss man ihnen nehmen, weil die Ängste für diese Kinder (auch für einen mächtigen Hengst!) alle Schmerzen erst richtig schlimm machen. Es ist eine besondere Gnade Gottes, wenn der Pferdebesitzer oder Pferdepfleger das kann: das Vertrauen des Pferdes zu gewinnen.
Prof. Dr. Anton Grauvogel, D – 85661 Forstinning